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Abtreibung ohne Frauen und Ärzte

Stattdessen dominieren in der Medienrealität Politiker und Paragrafen. Mit einer Ausnahme.

Von Natalie Grimm

In der Welt der Dramaturgie dürfen Haupt -und Titelfigur auf keinen Fall gleichgesetzt werden. Während die Hauptfigur (oder: der Protagonist) im Fokus der Handlung steht, ist die Titelfigur das, was auf dem Deckblatt steht. Dieses Prinzip mag in der Literatur oder darstellenden Kunst durchaus berechtigt sein, im realpolitischen Raum ist es aber bedenklich. „Das Kind beim Namen nennen“: Genau das entfällt im medialen Diskurs zum Thema Abtreibung. Rechtliche Erläuterungen zum Paragraphen 219 StGB, der die Werbung für Abtreibungen verbietet, politische Standpunkte (von einzelnen Akteuren bis hin zu Parteien) sowie Abtreibungskapellen lassen sich in der aktuellen Berichterstattung finden. Es fällt jedoch auf, dass weder den betroffenen Frauen noch den beteiligten Ärzten und Ärztinnen Raum in der Realität der Medien gegeben wird. Es scheint, als würde klar zwischen Haupt -und Titelfigur unterschieden werden.

Auslöser für die bundesweite Debatte war ein Gerichtsbeschluss vom November 2017. Die Allgemeinärztin Kristina Hänel wurde vom Landgericht Gießen zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt, denn ihre Website ermöglichte den Zugang zu Informationen über Schwangerschaftsabbrüche. Was folgte, war ein politischer Kampf, geprägt von divergierenden Ideologien. Schlichter war im Februar 2019 der Bundesrat, der eine Änderung des Paragraphen 219 StGB billigte. Seitdem dürfen Ärzte und Ärztinnen publik machen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten und durchführen.

Ein Blick in die deutsche Medienlandschaft zeigt ein auffallend konsistentes Bild: Dreh- und Angelpunkt der Diskussion um Abtreibung ist das umstrittene Gesetz. Sowohl in der Süddeutschen Zeitung als auch in der Zeit oder der Tagesschau spielen Betroffene (also Frauen sowie Ärzte und Ärztinnen) eine Nebenrolle.

Beispiel eins: ein SZ-Bericht mit dem Titel „Ärztin wegen Werbung für Abtreibungen verurteilt“ und ein Artikel aus der Zeit Online mit der Überschrift „Schwangerschaftsabbruch“. Bei beiden wird ein klarer Fokus gesetzt: Recht und Politik. So kommen auf der einen Seite die Staatsanwaltschaft Gießen zu Wort sowie die Verteidigerin Katarina Hänels, auf der anderen Seite werden Patientinnen und die Angeklagte selbst außen vorgelassen. Das mag im ersten Moment nicht verwundern, da persönliche Stellungnahmen von Angeklagten gegenüber der Presse meist ungewöhnlich sind. Jedoch werden zugleich die politischen Reaktionen gezeigt: Die SPD fordere, den Paragraphen zu streichen, die CDU spricht sich für das Verbleiben aus. Mit einem Satz wird erwähnt, dass Hänel bereits zwei Mal von der Organisation „Nie wieder“ angezeigt wurde, weitere Informationen dazu lassen sich im Artikel nicht finden. Beide Parteien, Kristina Hänel und „Nie wieder“, spielen offensichtlich eine Nebenrolle. Das Augenmerk liegt auf der rechtlichen Einordnung und der politischen Argumentation.

Kristina Hänel ist zwar nur eine Einzelkämpferin, aber eine Reihe von Mitstreitern steht hinter ihr: der Berufsverband der Frauenärzte und auch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin.

In manchen Zeitungen (die taz oder das Ärzteblatt) werden zwar Stellungnahmen und Erklärungen der Verbände zitiert, aber individuelle Stimmen oder Meinungen einzelner Ärzte und Ärztinnen werden nicht erwähnt, dafür aber die Position der politischen Parteien.

Beispiel zwei: ein Artikel der Tagesschau mit dem Titel „Ärztin soll Urteil wie ‚Ehrentitel‘ tragen“. Direkt in der Überschrift wird der Richter Johannes Nink zitiert. Dieser sagte am Ende der Urteilsbegründung, dass Hänel das Urteil wie einen Ehrentitel tragen solle. Der Artikel besteht insgesamt aus sieben Absätzen. Lediglich einer dieser Absätze konzentriert sich auf die angeklagte Ärztin, ihr Schlusswort wird paraphrasiert. In diesem ist ihre eigentliche Motivation versteckt, aber sowohl ihre Position als auch ihre Argumentation hinter dem Kampf werden klar. Im Kontrast dazu beziehen sich drei der Absätze auf Reaktionen oder Positionen der politischen Akteure und Parteien. Hinzu kommen zwei Absätze mit Hintergrundinformationen zum Prozess und ein Abschnitt, der sich mit dem Urteil und der Haltung des Richters auseinandersetzt.

Während das politische Drama weiter andauert, öffnet im Februar 2019 eine weitere Bühne. Im Tagesspiegel heißt sie „Brauchen wir Spahns neue Studie“. Es geht um die Bewilligung von Mitteln für eine Studie. Fünf Millionen Euro wurden durchgewinkt: Damit sollen die psychischen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen untersucht werden. Der Artikel beschäftigt sich hauptsächlich mit den Zielen der Studie und mit dem politischen Tauziehen um die Genehmigung. Eigentlich sind fünf Millionen Euro Kleingeld im Kosmos des Bundestages, doch diese Bewilligung ist auch an die Entscheidung zum Paragraphen 219a gekoppelt. All diese Hintergründe werden aufgedeckt, der bisherige Forschungsstand wird skizziert, aber eine Stimme wird gekonnt ignoriert – die der betroffenen Frauen. Im Kontext einer Studie würde es manchen Statistiker an den Rand des Wahnsinns treiben, nur eine Stimme zu erhören, jedoch wäre die Meinung einer Betroffenen im medialen Abbild dieser Debatte angebracht. Gegenstand der Diskussion ist die Notwendigkeit der angestrebten Studie. Das Thema an sich, nämlich die Folgen einer Abtreibung beziehungsweise konkrete Beispiele, bleiben gänzlich unerwähnt.

Es gibt ein Gegenbeispiel. Der Stern durchbricht die kontinuierlich gebaute vierte Wand und lässt Haupt- und Titelfiguren verschmelzen – am 2. März 2019 unter dem Titel „Fünf Frauen erzählen von ihren Erfahrungen vor und nach einer Abtreibung“. Der Text erzählt zwar persönliche Geschichten, streut aber ein, was man sonst noch wissen muss (rechtliche Gegebenheiten, gesetzliche Änderungen und die Historie von Kristina Hänel), sodass sich am Ende ein Gesamtbild herauskristallisiert. Thematisiert werden beide Seiten: Frauen mit Schwangerschaftsabbrüchen und Gegner der Abtreibung. Aber auch Ärzte, die diese medizinischen Eingriffe vornehmen, bleiben nicht außer Acht. Resultat ist hier ein Beitrag, der es schafft, alle Bereiche der Debatte abzudecken und gleichzeitig die vom Problem betroffenen Menschen in das Rampenlicht rückt.

Die Zeit gibt dagegen Abtreibungsgegnern Raum (oder auch Lebensrettern, wie sie sich selbst beschreiben). In einer dreiseitigen Reportage mit der Überschrift „Ja mei, der Franz“ werden Franz Graf und seine Anti-Abtreibungs-Kapelle begleitet. Mit Äußerungen wie „Was ist Auschwitz gegen diesen Massenmord an Kindern?“, „Der größte Völkermord in der Geschichte der Menschheit“ und „Wofür soll ich mich entschuldigen?“ sorgte der Landwirt für Schlagzeilen. Die Reportage will einen Blick in die Denkweise des 62-jährigen offerieren und gleichzeitig die Kontroverse hinter der Kapelle aufdecken. Zweifellos lässt sich hier sagen, dass ein Betroffener zu Wort kommt, denn nach journalistischer Ethik hat auch die Gegenseite einen Anspruch zur Sprache zu kommen.

Doch so ausführlich und kritisch man sich auch mit Franz Graf auseinandersetzt, so wird das (Ausnahme Stern) fast nirgends mit Betroffenen getan.

Die mediale Bühne trennt ganz klar Hauptfigur und Titelfigur. Während in der Berichterstattung der Fokus auf politische Entscheidungsträger, rechtliche Gegebenheiten und große Interessensvertreter gerichtet wird, bleiben die eigentlichen Akteure oder Protagonisten ungehört. Ärzte und Ärztinnen werden angegriffen und an ihrer Arbeit gehindert. Frauen werden stigmatisiert und ausgegrenzt. Bei Abtreibungen steht nicht die Ursache selbst im Mittelpunkt, sondern eine Entscheidung, die wegen gesellschaftlichen Mechanismen getroffen wird. Und so werden die Leidtragenden und Betroffenen nicht in den Vordergrund gerückt, also zur Hauptfigur gemacht, sondern am Bühnenrand platziert und zum Titelgeber degradiert.

Titelbild: Pixabay

Über Michael Meyen

Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 21. Oktober 2019 von in Gelesen und getaggt mit , , , , , .

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